„Komm,“ sagt das kleine Teufelchen, und nimmt mich bei der Hand. „Du bist doch immer so neugierig, ich zeige dir mal was ganz Interessantes“. Dann steigen wir gemeinsam eine lange, breite Treppe empor, bis wir vor einem großen Portal stehen. Ich blicke auf die mächtigen Säulen aus weißem Marmor rechts und links vom hochgewölbten Eingang und bewundere das prächtige Tor mit Beschlägen aus glänzend polierter Bronze.
„Wo sind wir hier,“ frage ich, „gehen wir in eine Kirche?“ Das Teufelchen lacht laut und sagt vergnügt: „Nein, eine Kirche ist das nicht, aber was Ähnliches.“ Innen gelangen wir durch ein Foyer in eine hohe, lichtdurchflutete Halle. „Ist das ein Schloss?“ frage ich. „Nein“ lacht das Teufelchen, „ein Schloss ist es auch nicht, aber was Ähnliches“. In der Halle verteilt sitzen einzelne Leute an Schreibtischen und sind in ihre Arbeit vertieft. Das Teufelchen zieht mich weiter, ehe ich mir das näher anschauen kann. „Komm, damit halten wir uns jetzt nicht lange auf. Wir beide blicken mal von oben auf das Ganze.“
„Ist das auch seriös, war wir hier machen? Oder tun wir etwas Verbotenes?“ frage ich irritiert. „Aber natürlich ist es völlig legal,“ sagt das Teufelchen. „Der Staat schätzt diese Einrichtung sogar sehr“. Hast du mal genauer auf einen 10-Euro-Geldschein geschaut? Da kannst du das gleiche Eingangsportal sehen, durch das wir vorhin hereingegangen sind. Oder guck dir mal diese Kirchenfenster auf dem 20-Euro-Schein an. Das sind dieselben wie hier unten im Foyer.“
Als wir im obersten Stockwerk angelangt sind, sagt das Teufelchen zu mir: „Schau aus dem Fenster und sag mir, was du siehst“. „Ich sehe die grauen Dächer unserer Stadt vor mir.“ „Du blickst nicht tief genug,“ antwortet das Teufelchen, „ich sehe da unten ein Heer von Schuldnern und Gläubigern. Die meisten Menschen auf unserer Welt sind nämlich entweder das eine oder das andere, manchmal beides zugleich. Als Gläubiger kannst du gute Geschäfte machen. Die meisten Schuldner fühlen sich schuldig, weil sie kein Geld haben, und akzeptieren aus Not auch hohe Zinsen, wenn du ihnen was leihst“. Nach einer Pause sagt das Teufelchen: „Wenn ich noch weiter schaue, erblicke ich am Horizont ein Paradies.“
„Nanu, ein Paradies auf Erden? Das würde ich auch gerne mal sehen.“ Da lacht das Teufelchen und sagt „Das gibt es tatsächlich. Du brauchst dafür nicht einmal weit zu reisen. Hast du schon einmal etwas gehört von Panama, Malta, den Bahamas oder den Cayman Islands? Das sind alles Steuerparadiese, na-ja manchmal auch nur Steueroasen. Da kannst du dein Geld sicher verstecken und gut vermehren.“
„Aber ich habe doch gar nicht so viel Geld zur Verfügung.“ „Das macht nichts, sagt das Teufelchen, „dann musst du es dir eben besorgen. Du könntest ein Kredithai werden, das ist sehr lukrativ“.
„Nein danke, das gefällt mir jetzt gar nicht.“
„Es gibt auch noch andere Wege,“ sagt das Teufelchen. „Für den Anfang kann ich dir jemanden vermitteln, der dir Geld leihen wird. Die Zinsen sind zurzeit günstig dafür. Damit kannst du dann Aktien kaufen und an der Börse Geld verdienen. Zum Beispiel kannst du dich an Firmen beteiligen, die Kriegswaffen und andere Rüstungsgüter herstellen. Oder Aktien von Unternehmen kaufen, die Lohnkosten sparen, weil sie Kinder für sich arbeiten lassen. Und es gibt noch ganz viele andere Heuschrecken. Du kannst mir glauben, all das wird dir ordentlich Profit einbringen, und es ist durchaus erlaubt und nichts Illegales dabei. Wenn du immer auf meine Ratschläge hörst, kannst du mit Spekulationen in kurzer Zeit sehr reich werden. “
„Nein danke, das traue ich mich nicht.“
„Dann bleibt noch der Weg in die Spielhölle“, lacht das Teufelchen. „Auch durch diese Hölle kannst du ins Paradies gelangen. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Erstens könntest du Glück im Spiel haben. Aber das ist ungewiss und kann lange dauern. Ein sicherer Weg wäre zweitens eine Manipulation an den Spielautomaten. Ich werde dir da bestimmte Geräte empfehlen, wo du es mit Aussicht auf Erfolg probieren kannst. Drittens sind auch Überfälle auf Spielbanken immer noch lukrativ, wenn du den richtigen Zeitpunkt kennst.“
Ich bin verwirrt. Dieses Gebäude hier ist gepflegt und edel gestaltet, das ganze Umfeld macht einen vertrauenerweckenden Eindruck auf mich. Ich zögere einen Moment. Reich zu sein wäre schon eine verlockende Sache. Seit Jahren komme ich immer nur ganz knapp mit meinem Geld aus. Aber auf solchen Wegen Reichtum erwerben? Irgendwie kommt mir das Gesicht des kleinen Teufels so bekannt vor. Am besten, ich frage direkt nach.
„Schade,“ sagt das Teufelchen, „jetzt hast du es doch gemerkt. Das hier ist ein ganz normales Bankhaus, so wie es viele Ähnliche überall in Europa gibt. Ich wollte dich ein bisschen in Versuchung führen, und dachte, dass es mir in dieser Umgebung leichter fallen würde.“
„Und warum hast du dann solche Begriffe wie Schuldner, Gläubiger, Heuschrecke, Oase, Paradies und Hölle gebraucht? Zuerst habe ich geglaubt, dass ich mich hier in einer kirchlichen Einrichtung befinde.“
„Hach,“ sagte das kleine Teufelchen, „das musst du selber rausbekommen. Aber es funktioniert doch ganz gut- oder??“
Plötzlich lässt der Teufel meine Hand los und verschwindet. Sie riecht stark nach Schwefel.
Ich brauche noch eine ganze Weile, bis mir wieder einfällt, wo ich das Gesicht des kleinen Teufelchens schon mal gesehen habe.
In der letzten Zeit habe ich wohl ein bisschen zu viel Fernsehen geschaut.