1.
„Meinst du das wirklich so?“ Marco schaut seinen Schulfreund fragend an. Eric überrascht ihn immer wieder mit neuen Plänen, obwohl sie sich nun schon mehrere Jahre kennen. „Na klar mache ich das. Du wirst sehen, das ist eine supergute Geschäftsidee. Ich kann alles bequem von zuhause aus erledigen, brauche dafür nichts weiter als meinen Computer.“ Eric lehnt sich ganz entspannt zurück. Sein Gesicht ist ein einziges zufriedenes Grinsen.
Marco schüttelt mit dem Kopf. „Wie bist du denn darauf gekommen?“ Eric berichtet seinem Freund, wie er im Internet recherchiert hat. Zufällig fand er einen Bericht über einen jungen Mann, der zusammen mit seiner Frau die Agentur „Kindheitsträume werden wahr“ betreibt. Es geht da um die Erfüllung besonderer Wünsche. Die Leute möchte einmal in ihrem Leben einen Hubschrauber selbst fliegen. Oder am Steuer eines echten Rennautos über die Piste fegen. Oder sich in den Sattel eines edlen Dressurpferdes setzen.
„Da hat es bei mir gefunkt. Ich wusste sofort, wie ich es noch besser machen kann. Diese viele Arbeit mit der Kontaktaufnahme, Planung, Buchung und Abrechnung solcher speziellen Erlebnisse kann ich mir sparen, wenn ich das Ganze online mache, also ich meine: nur virtuell im Internet“.
Dann erklärt Eric seinem Freund genau, wie er die eigene Website einrichten will. Einfach nur einen materiellen Wunsch erfüllen, das ist ihm nicht genug. Sowas ist ja nur für Leute, die über genügend Knete verfügen. Nein, Eric will viel weiter gehen. Er wird sich an alle Menschen wenden, die in ihrem Leben nach Sinn suchen. Denn letztlich kommt es ja nicht darauf an, was ein Mensch an Besitztümern um sich versammelt, sondern ob er etwas hat, woran er glauben kann.
Marco kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Also du meinst nicht solche Sachen wie
15 Minuten allein am Kuchenbuffet oder 15 Minuten allein im Kölner Dom? Du willst einfach Etwas zum Glauben verkaufen. Wie soll das denn funktionieren?
„Genau so,“ erwidert Eric, „und damit kann ich auch noch gutes Geld verdienen. Denn ich werde meine Website durch geschickte Wahl von Kennwörtern so gestalten, dass sie weit oben in den Internet-Suchlisten erscheint. Dann bekomme ich ganz viele Aufrufe. Dadurch ist meine Seite begehrenswert für andere Interessenten. Die dürfen dann gegen Bezahlung bei mir auf der Website ihre Beiträge einstellen. Oder ich gebe Hinweise auf Bücher, Filme und Reisen. Wenn Interessenten auf den beigefügten link klicken, dann erhalte ich eine Prämie. Du wirst sehen, das läuft alles wie geschmiert. Ich rechne schon bald mit guten Geschäften.“
„Ist echt toll gemacht, sieht alles sehr verlockend aus,“ muss Marco einräumen, nachdem sein Schulfreund ihm die ersten Entwürfe für den künftigen Internet-Auftritt in seinem Laptop gezeigt hat. „Aber eines kapiere ich nicht: wie meinst du das denn mit dem Glauben verkaufen“?
„Stimmt,“ muss Eric zugeben, „das ist der Punkt, an dem wir noch arbeiten müssen. Ich habe dir das alles deshalb gesagt, weil ich jetzt deine Hilfe brauche. Was meinst du, woran würden die meisten Menschen gerne glauben?“ Marco musss eine Weile nachdenken. Dann sagt er: „Das kannst du vergessen. Bestimmt hat jeder Mensch andere Vorstellungen davon, woran er glaubt. Falls er überhaupt noch an etwas glaubt. Alles ist so ungewiss geworden. Die meisten Dinge sind doch eh falsch, frei erfunden oder stimmen nicht. Deswegen gibt es ja solche Begriffe wie „fake news“. Vielleicht passt es besser, wenn du mehr an Illusionen denkst?“
„Genau das ist es,“ ruft Eric begeistert aus, „wir werden Fake News verbreiten. Wir sammeln aktuelle Situationen und basteln eine „Alternative“ dazu. Die können wir dann frei verkaufen oder auf Bestellung liefern“. „Wie wäre es mit kompletten Verschwörungstheorien?“ ergänzt sein Kumpel Marco. Die beiden Jungen lachen sich an, reißen ein paar Seiten aus ihren Schulheften und beginnen sofort mit den ersten selbst erfundenen Geschichten. Selten hat Ihnen das Schreiben so viel Spaß gemacht, wie gerade jetzt.
2.
Natürlich ist es mit dem ganz großen Geschäftemachen im Internet nicht so schnell vorangegangen, wie Eric und Marco es sich damals als Schüler vorgestellt hatten. Aber die beiden Freunde haben das Thema auch nach dem Ende ihrer Schulzeit nie ganz aus den Augen verloren, und die Website „Wunscherfüllung“ gibt es immer noch. Der Bedarf an Fake News und Verschwörungstheorien hat in letzter Zeit weiter zugenommen. Mit ihrer Website können Eric und Marco tatsächlich schon etwas Geld verdienen. Außerdem haben sie während ihrer Ausbildungs- und Studienzeit noch viel dazu gelernt über immer mehr neue, vielfältige Möglichkeiten, die sich im weltweiten Netz eröffnen.
Wenn zum Beispiel eine alternde Filmdiva den Wunsch hat, etwas jünger zu erscheinen, so ist das für Eric und Marco kein Problem. Ein kleiner Verdreher sorgt dafür, dass sie statt der 65 Jahre künftig nur noch 56 Jahre alt ist. Das kostet dann 1.000 €. Besonders beim Scannen und Kopieren bieten sich durch Zahlenveränderungen viele lukrative Möglichkeiten, welche die beiden Freunde inzwischen perfekt beherrschen. Schriftliche Beweismittel bei Gericht umgestalten, oder Iris-Scanner manipulieren: das ist alles machbar. Die entsprechenden Sicherheitslücken können die beiden Freunde ganz bequem aus den Berichten von Hackern im Internet entnehmen. Aber so etwas ist natürlich viel teurer. Die Preise legen sie jeweils individuell fest.
Inzwischen haben Eric und Marco beide geheiratet und schon Familien gegründet. Der Familienalltag und die Berufspflichten haben sie voll im Griff. Eigentlich sollten sie nun erwachsen genug sein, um rational und vernünftig zu denken. Aber die Wunscherfüllung ist immer noch ihr gemeinsames Ding geblieben.
Eines Tages sagt Marco zu Eric „Warum kümmern wir beide uns eigentlich immer nur um die Wünsche anderer Leute? Was ist denn mit unseren eigenen Wünschen? Ich fühle mich so unzufrieden auf meiner jetzigen Arbeitsstelle, irgendwie stimmt was nicht.“ Sein Freund schweigt eine Weile, dann sagt er: „Das kann ich gut verstehen, mir geht es ganz ähnlich“.
So kommt es, dass Eric und Marco endlich daran gehen, sich selbst einen Wunsch zu erfüllen. Und das ganz real und nicht nur online. Sie haben nun beide ihre Arbeitsplätze gekündigt, Kredit aufgenommen und alle Kräfte in ihr neues Start-up-Projekt eingebracht. Nach ihren Berechnungen müsste es möglich sein, damit auf Dauer ausreichend Geld -vielleicht sogar ganz viel Geld – zu verdienen. Nur ihre beiden Frauen haben heftig dagegen protestiert, denn sie fürchten um die Erfüllung ihrer eigenen, ganz realen Wünsche. Eric und Marco lassen sich nicht beirren. Sie haben ganz viel Spaß und Freude bei der täglichen gemeinsamen Arbeit mit der Wunscherfüllung. Sie finden, dass ihr junges Unternehmen sogar noch besser läuft als eigentlich zu erwarten war.
Eric ist geschäftstüchtig. Er kümmert sich besonders um die Umsetzung und Abwicklung der eingehenden Aufträge. Marco hat sich auf Verschwörungstheorien spezialisiert. Es fällt ihm inzwischen ganz leicht, zu jedem beliebigen Thema auf Bestellung eine überzeugende Geschichte zu liefern. Er kennt sich bestens aus mit Fleisch fressenden Bakterien, oder er übermittelt Botschaften von Rapunzel aus der Wirklichkeit. Ebenso kann er jeden gewünschten Beweis erbringen, dass Impfungen völlig unnütz sind oder der amerikanische Präsident in Wahrheit eine Rache der Aliens ist.
Verschwörungstheorien sind keine Erfindung der Neuzeit. Vor allem im Mittelalter waren sie stark verbreitet und bildeten die Rechtfertigung zur Verfolgung unbeliebter Randgruppen der Gesellschaft wie z.B. Juden oder Hexen. Das Prinzip ist bis heute das gleiche geblieben: wenige Beteiligte treffen geheime Absprachen, um mit ihren Handlungen schädliche, häufig auch illegale Zwecke zu verfolgen. Marco muss also nur die Zielrichtung der jeweils eingereichten Wunschbestellung genau kennen und dafür eine griffige Erklärung finden. Ist das Ziel z.B. eine Regierung, ein Wirtschaftsunternehmen oder eine Mediengruppe, so kann er gegen „die da oben“ vorgehen und diesen Machtmissbrauch oder Profitgier unterstellen. Er kann Pandemien leugnen, oder auf die „Lügenpresse“ verweisen. Auch medizin-ethische Themen sind gerade sehr im Kommen. Es geht ganz einfach, und Marco hat genug Phantasie, um mit großem Vergnügen immer aufs Neue unglaublich echt wirkende und sehr überzeugende Alternative Fakten zu kreieren. Eric und Marco müssen keine Angst haben, dass sie wegen ihrer Tätigkeit juristische Probleme bekommen. Die freie Meinungsäußerung und die Glaubensfreiheit sind in Deutschland wichtige Grundrechte, sie stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung.
So sind Eric und Marco jeden Tag fleißig am Arbeiten. Sie glauben beide fest an den weiteren Erfolg ihres Start-up-Projekts und die großartigen Möglichkeiten der Informations-Technologie. Sicher gibt es auch schon irgendwo in der virtuellen Welt einen bedeutenden Investor, der ihnen bald ein lukratives Angebot unterbreiten wird. Eine Zusammenarbeit oder vielleicht eine Übernahme? Sind das jetzt auch Fake News? Oder eine Illusion? Wer weiß es schon genau? Alles ist so ungewiss geworden. Die meisten Dinge sind doch eh falsch, frei erfunden oder stimmen nicht.