1.
Oh nein, bloß das jetzt nicht, schoss es mir durch den Kopf. Gerade waren wir alle im Schwesternzimmer zusammengekommen, um die Übergabe an die Nachtschicht vorzubereiten. Heute Abend hatte ich frei und wollte nach dem Schichtwechsel möglichst schnell nach Hause gehen. Mein Mann reagiert immer recht ungehalten, wenn er mit dem Abendessen so lange auf mich warten muss.
Vor mir stand Dana. Ihr kleiner, etwas untersetzter Körper zitterte vor Aufregung unter dem blauen Schwesternkittel. Mit der rechten Hand fuhr sie sich durch ihr lockiges, graues Haar. Sie wollte uns unbedingt sofort etwas Wichtiges mitteilen. Dana ist eine erfahrene Mitarbeiterin in der Altenpflege. So leicht lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Als ich vor vier Jahren die Leitung der Station B in der Seniorenresidenz „Haus am Schlosspark“ übernommen habe, hatte sie mir beim Start in der neuen Umgebung hilfreich zur Seite gestanden. Selten habe ich Dana so erregt erlebt wie gerade jetzt. Ihre Augen waren gerötet, und ihre Hände zitterten.
„Um Himmels Willen, was ist denn los Dana? Hat es wieder mal Ärger mit unserer ‘Miss Marple‘ gegeben?“ Diesen Spitznamen hatten wir – natürlich nur intern unter uns Mitarbeiten auf der Station – einer Heimbewohnerin gegeben, weil sie viel Ähnlichkeit mit der neugierigen, älteren Amateurdetektivin aus den Agathe Christie-Kriminalromanen hatte. Die alte Dame wohnte schon seit vielen Jahren auf unserer Station. Vor kurzem war sie 84 Jahre alt geworden, körperlich gebrechlich, aber geistig noch recht fit. Krimis waren ihre Lieblingslektüre. Sie konnte recht ungehalten werden, wenn der Nachschub an Büchern ins Stocken geriet. Und weil sie eine wohlhabende Witwe mit Aussicht auf ein gutes Erbteil war, fanden sich meistens hilfsbereite Familienmitglieder oder Freunde, welche ihr auf Wunsch gerne die neuesten Krimis besorgten.
Oft haben wir gelacht über den kriminalistischen Spürsinn und die Hinweise unserer Hobby-Detektivin auf verdächtige Vorkommnisse in der Seniorenresidenz, die sie uns in konspirativer Vertraulichkeit immer wieder zukommen ließ. Aber auf Station B hatten wir alles gut im Griff und konnten solche Angelegenheiten schnell aufklären. In letzter Zeit hatte ich eigentlich den Eindruck gewonnen, dass die alte Dame inzwischen etwas ruhiger geworden war und sich lieber dem Bücherlesen widmete.
Diesmal schien es aber ganz anders. „Stellt euch vor,“ berichtete Dana, und das Thema war ihr sichtlich unangenehm, „wenn das stimmt, was ‘Miss Marple‘ mir eben erzählt hat, als ich sie für die Nacht ausgekleidet und gewaschen habe, dann gibt es einen Fall von massiver sexueller Belästigung auf unserer Station. Und wir haben es alle nicht mitbekommen.“ Die alte Dame hatte ihr von erotischen Küssen, begrapschten Busen und einem vollkommen nackten Mann erzählt.
Der Verdacht richtete sich gegen einen von drei Männern, welche bei uns auf Station B wohnten. Diesen Mann kannten wir alle noch nicht so gut. Er war ein Parkinson-Patient und erst im vorigen Jahr neu eingezogen.
Mir stockte der Atem und meine Gedanken begannen zu rasen. Es war ganz klar, dass ich als Stationsleiterin jetzt schnell dafür sorgen musste, dass dieser Vorwurf nicht nach außen drang. Die Seniorenresidenz „Haus am Schlosspark“ genoss einen untadeligen Ruf, und es gab einige stadtbekannte Persönlichkeiten unter unseren Bewohnern. In meinem Kopf jagten die Gedanken wild durcheinander, ich hatte schon die ersten Artikel der Sensationspresse vor Augen. Soll ich sofort die Heimleitung informieren? Oder erst noch abwarten und beobachten, was auf unserer Station geschieht – und das Ganze herunterspielen?
Beim Blick auf meine Armbanduhr bemerkte ich, dass es inzwischen schon fast 21.00 Uhr geworden war. Heute Abend konnte ich nichts weiter unternehmen. Ich bat alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, in dieser Nacht auf der Station B besonders wachsam zu sein. Nach außen sollten sie vorläufig Stillschweigen bewahren und mit niemandem darüber sprechen.
Dann fuhr ich nach Hause zu meinem Mann. Er war nach der langen Wartezeit noch schlechter gelaunt, als ich befürchtet hatte. Als ich ihm von dem Verdacht der sexuellen Belästigung berichtet hatte, wollte er genau wissen, was denn eigentlich Schlimmes vorgefallen wäre. Dann grinste er und meinte, dass sei doch völlig klar: Wenn auf meiner Station Tag und Nacht drei Männer mit zwölf Frauen eng zusammenleben müssten, dann könne auch mal etwas passieren. Oder sind diese Männer alle Eunuchen?
2.
Am nächsten Tag hatte ich mir auf dem Weg zur Frühschicht schon einen genauen Plan gemacht, wie ich vorgehen wollte. Beim Eintreffen auf meiner Station war ich sehr erleichtert als ich erfuhr, dass in der vergangenen Nacht alles ruhig und normal verlaufen war. Es hatte keine ungewöhnlichen Ereignisse gegeben.
Zuerst wollte ich mir persönlich anhören, was genau unsere Hobby-Detektivin zu berichten hatte. Gleich nach dem Frühstück ging ich zu ihr ins Zimmer. Die alte Dame war noch nicht aufgestanden. Unfrisiert und nur mit einem rosafarbenen Nachthemd bekleidet thronte sie hochaufgerichtet in ihrem Bett und lud mich mit einer freundlichen Geste zum Platznehmen ein.
Ich zog einen Stuhl heran und setze mich neben ihr Bett. Dann lenkte ich das Gespräch vorsichtig auf unseren neuen Mitbewohner. Er war der alten Dame von Anfang an verdächtig vorgekommen. „Dieser Mann ist ein gefährlicher Macho“, sagte sie, “dem bin ich schon länger auf die Schliche gekommen. Stellen Sie sich bloß vor: als ich neulich an dem Bingo-Nachmittag vom Tisch aufgestanden bin, hat er mich in den Po gekniffen. Außerdem habe ich ihn in der letzten Woche beobachtet, wie er auf dem Balkon an seinem Zimmer vollkommen nackt in der Sonne gesessen hat“.
Ich war irritiert. „Wie haben Sie das denn sehen können? Die Balkone liegen doch alle versetzt zum Park hinaus?“
„Ja, so ganz einfach war das nicht. Ich bin bis ganz da vorne rechts in die Ecke von meinem Balkon gegangen. Und als ich mich dann über das Geländer gebeugt habe, konnte ich ihn auf seinem Balkon deutlich erkennen“.
„Das war aber sehr gefährlich, was Sie da gemacht haben. Sie hätten hinunterstützen können,“ warf ich ein.
„Aber es ist doch wichtig zu wissen, was da auf den Balkonen in unsrem Haus vor sich geht – oder?“ antwortete sie mir, und ihre Augen blitzten lebhaft.
Innerlich musste ich darüber lachen. Eigentlich war es doch gescheit, dass der Mann die Sonne genossen hatte. Und auf dem Balkon an seinem eigenen Zimmer konnte er grundsätzlich machen, was er wollte. Natürlich wäre es wohl besser gewesen, wenn er wenigstens ein Handtuch übergelegt hätte.
Nun versuchte ich, auf den Kern der Anschuldigung zu kommen. Was genau war denn geschehen? Bei ihren Beobachtungen hatte sich unsere Hobby-Detektivin auf eine andere Heimbewohnerin konzentriert, die mit Vornamen Susanne hieß. Ihr war sie heimlich bis in den angrenzenden Park gefolgt.
„Warum sind Sie ihr denn bis in den Park nachgegangen?“ fragte ich. „Ach, das war nur so aus Neugier,“ erwiderte sie. „Ich habe mich gewundert, warum Susanne in ihrem neuen roten Kleid plötzlich allein im Park spazieren gehen wollte. Wo wir doch sonst um diese Zeit immer gemeinsam am Senioren-Kaffee-Treff teilnehmen.“
Susanne hatte sich im Park eine Bank in der vollen Sonne ausgesucht, genau in deren Mitte Platz genommen und ihr rotes Kleid dort ausgebereitet. Kurz darauf erschien, gestützt auf seinen Rollator, ein Mann, der ganz sicher der neue Mitbewohner war. Er hatte ihr Kleid etwas beiseitegeschoben und sich dann ganz dicht neben Susanne auf die gleiche Bank gesetzt. Zunächst hatten sich die Beiden wohl einige Zeit unterhalten.
„Aber dann habe ich genau gesehen, wie der Mann Susanne auf den Mund geküsst hat – sogar mehrmals,“ schilderte unsere Hobby-Detektivin ihre Beobachtungen. „Und dann hat er mit seiner rechten Hand Susannes Brust gestreichelt“.
„Aber es ist doch nichts dagegen einzuwenden, wenn unsere Bewohner nett miteinander umgehen“, gab ich zu bedenken. „Liebesbeziehungen gibt es immer wieder, und die sind in unserem Heim nicht verboten. Ist der Mann denn grob geworden? Hat er ihr unter den Rock gegriffen? Hat Susanne sich gewehrt oder um Hilfe gerufen?“
Das war auf die Entfernung leider nicht so genau zu erkennen gewesen. Aber ‘Miss Marple‘ war überzeugt davon, dass alles genau so gewesen ist. „Warum können sie da so sicher sein?“, hakte ich nach. „Weil ich auch beobachtet habe, wie der Mann einige Tage danach zu Susanne ins Zimmer gegangen ist. Und als er dort wieder zur Tür herauskam, da stand seine Hose noch offen“, fügte sie triumphierend hinzu.
Puh, das hätte ich jetzt lieber nicht erfahren. Nun blieb mir keine Wahl mehr, ich musste ein Gespräch mit dem Mann führen. Die Gelegenheit dazu ergab sich schon sehr bald, denn unser neuer Mitbewohner kam von selbst zu mir und fragte an, ob ich Zeit für ihn hätte, er wolle etwas mit mir bereden. Er mochte das aber nicht drinnen im Haus tun, vielmehr sollten wir uns in Ruhe draußen im Schlosspark auf eine Bank setzten. Will dieser Mann bei dir auch noch zudringlich werden? war mein erster Gedanke.
Als wir dann gemeinsam bei der Bank im Park angekommen waren, begann der Mann sofort mit seiner Klage. „Ständig werde ich von zwei Mitbewohnerinnen beobachtet und verfolgt. Dauernd schnüffeln diese beiden Frauen hinter mir her. Jeden Tag beim Mittagessen versuchen sie, einen Platz neben mir am Tisch zu bekommen, um mich mit ihrem Geschwätz zu nerven“, jammerte der Mann empört. „Nach dem Tod meiner Frau bin ich hier ins Heim umgezogen, um in Frieden leben zu können. Obwohl mir das Laufen am Rollator schwerfällt, suche ich oft Ruhe auf dieser abgelegenen Bank hier. Und schon taucht wieder eine dieser Frauen auf, und setzt sich ausgerechnet auf den Platz neben mir. Können Sie das nicht irgendwie verbieten?“
Vorsichtig brachte ich zum Ausdruck, dass ich eigentlich den Eindruck gehabt hätte, dass er Damen-Gesellschaft schätzt und besonders Susanne zugetan wäre. Der Mann schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass seine strähnigen, grauen Haare hin und her flogen und die Brille fast zu Boden fiel.
„Aber es stimmt doch, dass Sie Susanne in deren Zimmer besucht haben?“
„Besucht? Was für ein Quatsch!“ schimpfte er voller Empörung. „Ja, ich war bei dieser Frau im Zimmer. Aber nicht, was Sie jetzt denken. Ich habe mit ihr gestritten und verlangt, dass sie mich endlich in Ruhe lassen soll. Aber dieses verrückte Weib hat mir nicht mal richtig zugehört. Statt auf meine Bitte einzugehen, wollte sie, dass ich mich mit ihr ins Bett legen soll. Die spinnt doch, die Alte!“
„Sind Sie ganz sicher, dass es wirklich so gewesen ist? Jemand hat Sie gesehen, wie Sie gerade aus dem Zimmer von Susanne gekommen sind. Und da soll ihr Hosenlatz offen gestanden haben.“
Das Gesicht des Mannes färbte sich rot vor Wut, seine Mundwinkel zuckten heftig. Dann griff er mit zitterigen Händen nach seinem Rollator und begann mit dessen Hilfe so rasch wie möglich aufzustehen.
„Jetzt reicht es mir aber“, schimpfte er. „Haben sich den alle gegen mich verschworen? Sie wissen doch, dass ich Parkinson habe. Das macht mir große Probleme. Mit dem plötzlichen Harndrang ist es schwierig. Darf ich nach einem Besuch nicht mal auf die Toilette gehen? Ich musste in dem Moment gerade sehr nötig. Deswegen habe ich mich, als ich das Zimmer dieser Frau verlassen habe, auf dem Rückweg zu meinem Zimmer beeilt und unterwegs schon mal den Reißverschluss geöffnet. Mit meinen steifen Händen geht das ja alles nicht so schnell“. Abrupt drehte er mir der den Rücken zu, griff nach seinem Rollator und stakte grußlos davon.
3.
Oh-je, jetzt hatte ich mich in eine arg verfahrene Situation gebracht. Was soll ich tun, um die ganze Angelegenheit zu einem guten Ende zu bringen? Diese Geschichte hat mich schon viel Zeit und Nerven gekostet, die ich eigentlich für andere Arbeiten dringend benötige. Ich muss endlich eine Lösung finden. Und dafür war es unvermeidbar, auch noch mit Susanne zu sprechen.
Susanne gehörte zu den jüngeren Heimbewohnerinnen. Sie war zu uns gekommen, weil es keine Angehörigen gab, die sich um sie kümmern konnten. Früher hatte sie als Chefsekretärin bei einem Forschungsinstitut gearbeitet. Durch eine Krebs-Erkrankung war sie nun zum Pflegefall geworden. Susanne war hochgewachsen und schlank, hatte immer noch eine gute Figur, und legte viel Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Bei unserem Haus-Friseur war sie eine der besten Kundinnen. Mindestens einmal die Woche ließ sie sich ihre Haare richten.
Erst zwei Tage später hatte ich wieder genug Zeit, um mit Susanne zu sprechen. Im hinteren Flurbereich befand sich auf unserer Station ein ruhiges Kamin-Zimmer mit einer kleinen Bibliothek. Das schien mir der passende Ort für ein ungestörtes Gespräch mit Susanne zu sein. Ich wollte sie nicht direkt in mein Büro kommen lassen, das hätte der ganzen Sache nur zusätzliche Aufmerksamkeit verschafft. Für eine entspannte Atmosphäre hatte ich extra eine Kanne Kaffee besorgt und Kekse dazu gestellt.
Pünktlich um 15.00 Uhr stand Susanne in der Tür, elegant gekleidet mit einem lachsroten Blazer zu einer eng sitzenden, schwarzen Hose. Nach einer kurzen Begrüßung fragte ich Susanne, wie es ihr geht und ob sie sich in unserer Seniorenresidenz wohl fühlt.
„Ja, ist alles gut hier. Wenn mir nur die Ärzte besser helfen könnten“, seufzte sie, „manchmal habe ich richtig Angst, dass es mit meinem Leben schon bald zu Ende gehen wird.“
Dann fuhr ich fort: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie offenbar einen Verehrer hier auf der Station haben. Das tut einer schicken Frau wie Ihnen doch sicher auch ein wenig gut?“
„Gut? Wie kommen Sie denn darauf? Wenn Sie diesen Mann meinen, der letztens hier eingezogen ist, dann liegen Sie völlig daneben.“ Susanne verdrehte die Augen und hob abwehrend beide Hände. „Der ist ein eingebildeter, aufdringlicher Kerl. Als ich zum Beispiel gestern nach dem Mittagessen vom Tisch aufgestanden und rein zufällig an ihm vorbei gegangen bin, hat er mich plötzlich in den Po gekniffen. Und es ist mir auch schon mal passiert, dass er richtig zugepackt und mich sexuell bedrängt hat.“ Susanne schnappte hörbar nach Luft.
„So etwas darf natürlich nicht vorkommen. Warum haben Sie denn nicht sofort mit mir darüber gesprochen?“
„Weil es mir so peinlich gewesen ist“. Susannes Wangen röteten sich.
„Wann und wo ist es denn zu diesem Vorfall gekommen? Was ist denn passiert?“ Ich bemühte mich, möglichst sachlich zu bleiben. „Ach, das war schon vor ein paar Wochen. Das Datum weiß ich jetzt nicht mehr. Genau hier in dem Kamin-Zimmer, wo wir jetzt sitzen. Ich hatte es mir da drüben auf dem blauen Sofa gemütlich gemacht und wollte in Ruhe ein Buch lesen“.
„Was für ein Buch war das denn?“ wollte ich wissen, um die Peinlichkeit des Gesprächs ein wenig abzudämpfen.
„Das war einer von den schwarzen Eifel-Krimis aus dem Bücherschrank. Eine Bewohnerin hatte mir den Tipp gegeben. Neuerdings lese ich ganz gerne mal einen Kriminalroman. Diese Detektivgeschichten finde ich richtig spannend. Und hier im Kamin-Zimmer bin ich meistens allein und ungestört, kann in Ruhe schmökern.“
Aha, noch eine Krimi-Leserin. Und sie wurde ebenfalls von dem Mann in den Po gekniffen. Irgendwie merkwürdig.
„Was genau hat der Mann denn an dem Tag hier gemacht?“
Susanne schilderte, wie er plötzlich mit seinem Rollator in das Kamin-Zimmer herein gepoltert ist und sich wortlos dicht neben sie auf das blaue Sofa gesetzt hat. Wo doch alle anderen Stühle und Sessel noch frei gewesen seien.
„Kurz darauf hat er sich plötzlich wortlos zu mir herübergebeugt und versucht, mich auf den Mund zu küssen. Erst war ich ganz erschrocken und habe stillgehalten. Aber als er dann nach meiner Brust greifen wollte, habe ich ihn weggestoßen und geschrien, dass er mich sofort in Ruhe lassen soll. Aber der Mann wurde immer erregter und ließ nicht von mir ab. Als er dann seine Hand unter meinen Rock schob und mir an die Wäsche wollte, habe ich ihn mit aller Kraft in die Sofaecke geschubst. Ich war so wütend, dass ich ihm zusätzlich noch eine Ohrfeige verpasst habe. Was denkt so ein Kerl denn von mir? Schließlich war ich mal Chefsekretärin.“
Nach Susannes Schilderung war der Mann danach so schnell er konnte aufgestanden und aus dem Kamin-Zimmer verschwunden. Während sie noch eine Weile auf dem Sofa gewartet hat, bis das Geräusch von seinem Rollator im Flur verhallt war.
„War das alles, oder hat es zwischen Ihnen und dem Mann noch weitere Vorfälle dieser Art gegeben?“ wollte ich noch wissen. Aber das wurde von Susanne ganz entschieden verneinet.
„Den habe ich endgültig in die Flucht geschlagen“, brüstete sie sich und zeigte mit ihrem Daumen nach oben.
4.
Nun hatte ich von drei Personen drei verschiedene Darstellungen einer sexuellen Belästigung erhalten. Einige Punkte stimmten überein, aber viele der geschilderten Details passten einfach nicht zusammen. Wem soll ich glauben? Warum hat die unmittelbar betroffenen Susanne so lange geschwiegen, bis die Belästigung von unserer Hobby-Detektivin aufgedeckt wurde?
Die Zeit drängte. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Gerüchteküche zu brodeln begann, und dann wäre das Thema bald in aller Munde. Hinzu kam, dass ich bisher weder unsere Pflegdienstleiterin noch den Verwaltungschef über den Vorgang informiert hatte. Achtung – da kannst du als Stationsleiterin mächtig Ärger bekommen, warnte meine innere Stimme.
Ich entschloss mich, nochmals mit unserer Hobby-Detektivin zu reden. Sie hatte ja die ganze Sache ins Rollen gebracht. Also machte ich ihr den Vorschlag, dass wir beide zusammen in den Park gehen. Sie sollte mir die genaue Stelle zeigen, von der aus sie die Bank beobachtet hat, auf der Susanne mit dem Mann gesessen hat.
Als ich mit der alten Dame zu Fuß den Schlosspark erreichte, fiel mir schon von Weitem auf, dass die Bank völlig frei am Rand einer großen Rasenfläche stand. Es gab weit und breit keinen dicken Baumstamm oder ein Versteck im Gebüsch, von wo aus jemand unbemerkt Beobachtungen hätte anstellen können. Tatsächlich geriet die alte Dame etwas in Erklärungsnot. Aber sie blieb trotzdem ganz fest dabei, dass sie den Vorfall von Susanne und dem Mann dort gesehen hat.
Direkt anschließend ging ich wieder zu Susanne. Erneut wiederholte sie ihre Schilderung von der Begegnung im Kamin-Zimmer mit fast den gleichen Worten. Daraufhin konfrontierte ich sie mit dem Bericht von den Ereignissen auf der Parkbank, den unsere Hobby-Detektivin erstattet hatte. Da wurde Susanne auf einmal blass im Gesicht und begann unruhig auf ihrem Sessel hin und her zu rutschen. Jetzt habe ich sie ertappt, freute ich mich insgeheim.
Nun versuchte ich, das Gespräch noch auf einen anderen Punkt zu lenken. „Stimmt es wirklich, dass Sie von dem Mann beim Aufstehen vom Mittagstisch in den Po gekniffen wurden? Das gleiche hat mir nämlich auch noch eine andere Mitbewohnerin erzählt.“ Jetzt wurde Susanne ganz lebhaft und bestätigte diesen Vorfall sofort in allen Details.
“Haben Sie mit jemandem hier auf der Station B darüber gesprochen“, fragte ich weiter. Nach kurzem Zögern gab Susanne zu, dass sie sich darüber mit unserer Hobby-Detektivin ausgetauscht hatte. „Aber wir waren uns nicht so ganz sicher, was der demente alte Mann eigentlich von uns gewollt hat. Dann habe ich ein bisschen geträumt und mir vorgestellt, wie schön es wäre, mal wieder einen Kuss zu bekommen“. Susannes Gesicht wurde immer röter.
„Also hätten Sie ihm keine Ohrfeige verpasst, wenn es so gewesen wäre?“ Susanne schüttelte ihren Kopf und senkte verlegen ihren Blick.
„Immer nur Krimis zu lesen, ist doch langweilig“, gab unsere ‘Miss Marple‘ zu, nachdem ich sie eindringlich zur Wahrheit ermahn hatte. „Plötzlich habe ich Lust bekommen auf eine spannende Detektivgeschichte im eigenen Haus“. Ihre Augen blitzten vor Vergnügen, als sie fortfuhr. „Dieser Mann hat sich absichtlich nackt auf dem Balkon so in die Sonne gelegt, dass ich es sehen musste. Das gehört sich doch nicht. Deshalb habe ich mich mit Susanne zusammengetan. Wir wollten ihm einen Denkzettel verpassen“.
Ich habe tief durchgeatmet und war sehr erleichtert, dass ich die ganze Sache soweit aufklären konnte. Aber der schwierigste Teil stand noch bevor.
„Jetzt gehen wir am besten alle gemeinsam zu unserem Mitbewohner, und Sie beide entschuldigen sich bei dem Mann“, schlug ich den beiden Frauen vor.
„Aber wieso denn, der weiß doch gar nichts davon.“ Die zwei wollten nicht mitspielen.
„Doch, der Mann hat sich bei mir über Sie beschwert. Außerdem beschäftigen sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf unserer Station nun schon seit mehr als einer Woche mit diesem Thema“, gab ich zu bedenken. „Der Vorwurf muss wirklich endgültig ausgeräumt werden“.
5.
Es war nicht leicht, alle drei beteiligten Bewohner zusammen zu bringen. Schließlich hatte ich die Idee, den Pfarrer um Hilfe zu bitten, der immer dienstags um 16.00 Uhr eine Andacht auf unserer Station hielt. Denn er war allseits beliebt und genoss bei unseren Bewohnern höchstes Ansehen. Der Pfarrer hatte schnell verstanden, worum es ging und versprach: „Das will ich gern versuchen“.
Am Dienstag der nächsten Woche gab es für die Bewohnerinnen und Bewohner auf Station B anstelle der üblichen, kurzen Andacht eine lange Predigt. Der Pfarrer begann nicht mit den erwarteten Bibelworten. Stattdessen hatte er Dostojewskis „Schuld und Sühne“ mitgebracht und las mit lauter Stimme den Bewohnern einige spannende Passagen aus dem Roman vor. Dann predigte er über Mündigkeit, Selbstverantwortung, Gerechtigkeit und die Folgen unüberlegter Handlungen. Den Abschluss bildete ein eindringlicher Appell an das Ehrgefühl der Heimbewohner.
Diese Predigt zeigte Wirkung bei den beiden alten Damen. Nach längerer Bedenkzeit waren sie nun doch zu einer Entschuldigung bereit. Deshalb saß der Pfarrer mit an dem runden Tisch im ruhigen Kamin-Zimmer, als das gemeinsame Gespräch mit allen drei Heimbewohnern endlich stattfand.
Der alte Mann, um den sich plötzlich alle bemühten, war sichtlich genervt über so viel Aufmerksamkeit. Misstrauisch hielt er seinen Kopf gesenkt und hatte seinen Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Dann hob er seine rechte Hand abwehrend gegen den Pfarrer und sagte mit leiser Stimme: „Herr Pfarrer, ich will nicht bereuen und nicht Busse tun. Ich habe nicht gesündigt.“
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Pfarrer ihn davon überzeugen konnte, dass es eigentlich um eine Entschuldigung der beiden Frauen ihm gegenüber ging. Da hellten sich seine, von der Parkinson-Erkrankung versteiften Gesichtszüge ein wenig auf, und er wandte sich dem Pfarrer zu.
„Ach wissen Sie, Herr Pfarrer, ihnen als Mann kann ich es ja anvertrauen. Innerlich hatte ich es schon genossen, dass sich gleich zwei Frauen mit mir beschäftigt haben. Sowas erlebt man ja in meinem Alter nicht oft. Verstehen Sie, was ich meine? Aber für einen Witwer schickt es sich eben nicht. Deshalb habe ich mich beschwert. Aber wenn sich die beiden Damen diskreter und geschickter verhalten hätten, wer weiß?“ fügte er mit einem leisen Seufzer hinzu.
Und so kam es, dass auf Station B wieder Frieden einkehren konnte. Der Pfarrer nutzte die Gelegenheit und schlug vor, gemeinsam mit den drei Bewohnern einen Literaturkreis zu gründen. Seine einzige Bedingung war, dass dort keine Kriminalromane, sondern wahrhaftige Meisterwerke der Literatur gelesen werden. „Ihr habt ja alle selbst erlebt, was Krimi-Lesen für einen Schaden anrichten kann“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Dieses Angebot wurde gerne angenommen. Als regelmäßiger Treffpunkt wurde das blaue Sofa im Kamin-Zimmer vereinbart. Allmählich kamen noch weitere interessierte Bewohnerinnen und Bewohner von den anderen Stationen zu dem Literaturkreis hinzu. Die beiden Frauen gehörten fortan zu den eifrigsten Leserinnen und Diskussionsteilnehmern. Auch der Mann kam regelmässig zu den Treffen, blieb aber meistens ein schweigsamer Zuhörer. Und am Ende sind sie allen drei noch zu richtig guten Freunden geworden.