Geschrieben von mir nach einer gemeinsam Idee von Eva-Maria Gerstkamp und Eva Maria Keuchel
Wenn man den Weg aus dem Dorf herausfährt, kann man das Schild zum Glockenhof leicht übersehen. Da wo die breite Straße beginnt, zweigt rechts ein schmaler Feldweg ab. Nach einer kurzen Strecke bergauf erreicht man dann im oberen Tal den Glockenhof.
So oft es geht, macht sich die kleine Elisabeth auf den Weg vom Dorf zum Glockenhof. Sie ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von den vielen Tieren, die dort leben. Vor kurzem ist sie sechs Jahre alt geworden und darf seitdem die Strecke bis zum Hof auch allein gehen.
Schon von Weitem hört sie das Schnattern der Gänse, die meistens entlang des Bachs auf der Wiese vor dem Hoftor nach Futter suchen. Dann ruft sie ganz laut: „Wulle, wulle Gänschen, kommt alle her zu mir. Ich habe wieder ganz leckeres Futter mitgebracht. Schaut mal, lauter schöne Sachen, die ihr gerne mögt. Hier ist eingeweichtes Weizenbrot, und da habt ihr die Haferflocken und die Äpfel. Aber nun drängelt doch nicht so. Es ist genug für euch alle da. Wie groß ihr alle geworden seid. Ihr seht jetzt richtig schön aus mit den glänzenden weißen Federn. Den gelben Flaum von früher fand ich echt hässlich“.
Elisabeth kennt die einzelnen Tiere ganz genau und kann auch verstehen, worüber sie sprechen. Direkt vor ihr plustert sich gerade die besonders große, eitle Gans auf und sagt: „Ja, das stimmt. Schau nur, wie breit mein elegant geformter, gelber Schnabel gewachsen ist. Und meine Watschel-Füße sind farblich genau passend dazu abgestimmt. So eine Schönheit wie mich gibt es nicht noch einmal, das kannst du mir glauben“.
Die dumme Gans schnattert dazwischen: „Das ist echt gemein, was du da sagst. Auf solche Äußerlichkeiten kommt es doch gar nicht an. Schau mich an. Ich bin die Dickste von uns allen. Meine Brust und meine Keulen sind ordentlich fett geworden. Deshalb bin ich die Schönste“. Dicht daneben hat es sich die kluge Gans in einer Sandkuhle bequem gemacht. Sie wiegt nachdenklich ihren langen Hals hin und her und ärgert sich über die störende Streiterei ihrer Schwestern.
Während die kleine Elisabeth so mit den Gänsen spricht, kommt der Glockenbauer auf seinem ratternden Traktor angefahren. „Das ist aber lieb mein Kind, dass du wieder gekommen bist, um die Gänse zu füttern. Du bist schon eine richtige Gänseliesel geworden. Das macht dir Freude, nicht wahr“? – „Oh-ja Glockenbauer, das tue ich richtig gern. Deine Gänse werden jedes Mal schöner, weil ich ihnen so viel leckeres Futter bringe. Sie sollen immer gut zu fressen haben, damit sie noch grösser werden, und ihre weißen Federn noch besser glänzen“.
Der Bauer schmunzelt und antwortet vergnügt: „Da hast du Recht, mein liebes Kind. Was glaubst du, wie ich mich erst darüber freue. Mach ruhig weiter so mit dem Füttern. Meine Gänse müssen möglichst fett und prächtig gedeihen. Bald ist ja Weihnachten, und die sollen alle zu Weihnachtsgänsen werden“.
Die dumme Gans schnattert aufgeregt: „Habt Ihr das gehört, meine Schwestern? Das ist ja ganz toll und bestimmt etwas besonders Schönes. Wir werden alle Weihnachtsgänse! Oh, was bin ich so stolz darauf und freue mich wahnsinnig drüber“. Aber die kluge Gans faucht empört: „Na-na, du dumme Gans, jetzt komm mal vom Höhenflug zurück auf den Rasen. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich eine Weihnachtsgans werden will“. Und die eitle Gans zischt zurück: „Du olle Kluggans hast wiedermal an allem was auszusetzen. Du bist viel zu dürr und hässlich. Da kommst du als Weihnachtsgans bestimmt nicht in Betracht“.
Nachdem der Glockenbauer mit dem Traktor fortgefahren ist, versucht die kleine Elisabeth, die aufgeregte Gänseschar zu beruhigen und erzählt von ihren eigenen Weihnachtserfahrungen. „Weihnachten ist ein ganz tolles Fest. Das weiß ich sicher, denn ich habe es schon ein paar Mal erlebt. Wir gehen dann mit der ganzen Familie in die Kirche und singen Weihnachtslieder. Der Christbaum im Wohnzimmer ist geschmückt mit leuchtenden Kerzen, und das duftet herrlich. Darunter liegen schöne Geschenke. Unser Tisch ist festlich gedeckt, und sehr leckeres Essen gibt es auch“.
„Was für Essen ist das denn?“ fragt die kluge Gans recht skeptisch. Die kleine Elisabeth weiß nur, dass es ein knuspriger Braten war mit leckerem Rotkohl und Klößen dazu. Da macht sich die kluge Gans ihre eigenen Gedanken. Denn ihr ist aufgefallen, dass in der Zeit, wo die Kinder des Bauern mit ihren bunten Martins-Laternen auf dem Glockenhof herumgelaufen sind, plötzlich zwei von ihren Gänseschwestern verschwunden waren. Deshalb beschließt sie, weiterhin möglichst wenig zu fressen und nicht dick zu werden.
Als der erste Schnee fällt, und es immer kälter wird, wandert die kleine Elisabeth nur noch selten hinauf zum Glockenhof. Die Gänse sind auch nicht mehr am Bachufer, sie bleiben jetzt gerne im warmen Stall. Kurz vor Weihnachten macht sich Elisabeth dann doch nochmal auf den Weg. Schon von weitem sieht sie den großen blauen Vieh-Transporter, der mitten auf dem Hof geparkt ist. Drinnen stehen bereits einige Schweine, die laut quieken. Gerade ist der Glockenbauer zusammen mit seiner Frau dabei, die aufgeregte Gänseschar direkt aus dem Stall auf den Vieh-Transporter zu treiben. Wie gebannt steht die kleine Elisabeth am Rand vor dem Scheunentor und schaut staunend zu, wie die eitle Gans und die dumme Gans mit stolz empor gerecktem Hals über eine Rampe auf die Ladefläche des Autos hinauf marschieren.
Plötzlich hört sie hinter sich ein Geräusch und spürt ein Zupfen an ihrem Anorak. Als sie sich umdreht, steht die kluge Gans direkt vor ihr. „Du musst mir helfen“, sagt die Gans, “ich will nicht mit auf diesen Transporter und hatte mich in der Scheune versteckt“. Die kleine Elisabeth ist erschrocken und ratlos, was sie nun tun soll. Ihr kommen die Tränen, denn sie kann die schlimme Angst des armen Tieres genau spüren. Dann hockt sie sich auf den Boden und schlingt ihre kleinen Arme schützend um die große weiße Gans.
Auf einmal steht der Glockenbauer vor ihr und fragt recht ärgerlich: „Was machst du denn hier mit der Gans im Arm? Die hätte doch längst mit dem Transporter weg sein sollen“. Da sieht er, wie das Kind weint. Und er denkt daran, dass bald Weihnachten sein wird. Dann sagt er zu Elisabeth. „Ach, jetzt ist es ja auch egal. Für diese dürre Viech hätte ich eh nicht viel bekommen. Weißt du was? Nimm die Gans einfach mit zu dir nach Hause. Ich will die hier auf dem Hof nicht mehr sehen. Ich schenke sie dir zu Weihnachten.“
Und so ist es gekommen, dass sich die kleine Elisabeth gemeinsam mit der Gans auf den Weg zurück ins Dorf gemacht hat. Der Anblick des langsam schreitenden Mädchens mit der teils flatternden, teils neben ihr watschelnden Gans hat die Dorfbewohner in Staunen versetzt. “Hei Elisabeth, was hast du da für eine dürre, neue Freundin?“ riefen sie ihr lachend zu. „Wenn du ihr jetzt noch eine Leine um den Hals legst, ist sie so gut wie ein Hund.“
Die Omi von Elisabeth war gern bereit, für die aufgeregte Gans einen schönen, ruhigen Platz in ihrem Schuppen direkt neben dem Hühnerstall einzurichten. Die inzwischen sehr ermattete Gans ist erleichtert und bedankt sich mit freundlichem Geschnatter.
Zu Weihnachten hat Elisabeth ihre Oma dann zusammen mit der Gans abgeholt, damit alle gemeinsam zuhause bei ihren Eltern das Christfest feiern konnten. So hat sie allen gezeigt, dass eine lebende Gans auf dem Schoss viel schöner ist als ein Braten auf dem Teller. Die kluge Gans blieb noch lange in dem Dorf bei der Omi von Elisabeth. Und wenn sie nicht gestorben ist, sitzt dort ganz bestimmt noch jedes Jahr zu Weihnachten unter dem Tannenbaum.