Mäusegeschichte
Wahrscheinlich war sie schon lange vorher da. Aber bemerkt habe ich sie erst im Herbst, als ich Blumenzwiebeln in das kleine Beet vor der Terrasse meiner Wohnung setzen wollte. Da entdeckte ich die weit verzweigten, frischen Mäusegänge in der Erde. Und als ich mich einmal umdrehte, sah ich auch die Maus persönlich. Sie saß gar nicht weit entfernt dicht neben einem Pflanzenkübel und blickte aus ihren schwarzen, glänzenden Augen neugierig zu mir herüber. Sie war hübsch anzusehen mit ihrem kuscheligen graubraunen Fell, dem kleinen Schwanz und ihren runden Öhrchen. Sie schien gar nicht scheu zu sein.
Trotzdem war ich nicht begeistert, so dicht vor meiner Terassentür eine Maus zu entdecken. Leicht könnte sie in die Wohnung huschen. Das wollte ich nicht. Sie sollte verschwinden und weit wegziehen. Im angrenzenden Parkgelände war doch genug Platz für sie. Deshalb habe ich beim Umgraben möglichst viele Mausegänge zerstört und stattdessen viele Blumenzwiebeln eingepflanzt.
Mit dem Ergebnis war ich recht zufrieden. Die kleine Maus ließ sich wochenlang nicht blicken. Bestimmt hatte sie mein deutliches Signal verstanden. Aber dann kam der Winter. Im ersten Schnee sah ich wieder Mäusespuren rund um mein Beet. Später entdeckte ich, dass die Maus quer durch den Garten sogar eine richtig breite Straße unter der Schneedecke angelegt hatte, ausgekleidet mit Grashalmen. Aha, diese Maus hält keinen Winterschlaf. Trotz allem hatte ich ein bisschen Mitleid mit ihr wegen der Kälte und beschloss, dass sie bis zum Frühling in meinem Garten bleiben darf. Schließlich steht meine Terrassentür im Winter ja nicht stundenlang offen und lädt zum Spaziergang in die Wohnung ein.
Das war ganz klar die falsche Entscheidung. Schon bald im Frühling habe ich es bereut. Da bot mein neu angelegtes Beet einen kläglichen Anblick. Statt der erhofften, üppigen Blütenpracht aus Schneeglöckchen, Hyazinthen, Tulpen und Narzissen gab es reichlich kahle Stellen. Viele meiner neu eingesetzten Blumenzwiebeln waren über Winter einfach verschwunden. Als ich dann auch noch abgenagte Reste fand, war ganz klar, wer dahintersteckte. Ich bekam einen ziemlichen Wutanfall, und beschloss, eine Mausefalle zu kaufen.
„Möchten sie eine richtige Falle mit Schlag oder eine Lebendfalle?“ fragte mich der Verkäufer im Baumarkt. Nach einigem Zögern habe ich mich für die Lebendfalle entschieden. Ich bin ja kein Unmensch. So erstand ich dieses kleine Gitterkästchen mit Falltür, das bis heute noch nutzlos in meinem Kellerregal herumliegt. Ich sollte in die Falle ein paar Haferflocken, etwas Speck, Käse oder eine ähnliche Leckerei hineinlegen. Sodann den Schnapper für die Falltür spannen und das ganze vor einem Eingang in die Mäuseunterwelt meines Beetes aufstellen. Und wenn die Maus dann später in dem Kästchen saß, könnte ich sie weit wegbringen und wieder freilassen.
Bestimmt zehn Mal an verschiedenen Tagen und zu unterschiedlichen Zeiten habe ich die Falle gemäß Anleitung präpariert und aufgestellt. Jedes Mal war am nächsten Tag die Falltür zugschnappt, aber die Maus saß nicht im Kästchen. Dass sie es trotzdem immer wieder geschafft hat, die innen liegenden Leckereien vollständig herauszuholen und restlos zu vertilgen, hat mich mit Respekt erfüllt. Meine Maus ist ein besonders kluges Tier.
Zufällig las ich dann in einer Illustrierten, dass Mäuse keinen Knoblauch-Geruch mögen. Daraufhin habe große Mengen kräftig duftender Knoblauchzwiebeln geschält. Die einzelnen Zehen habe ich in die Gänge unter meinem Beet geschoben und dann die Eingänge mit Erde fest verschlossen. Siehe da, es hat geholfen! Die Maus ist aus dem Beet verschwunden. Wochenlang war sie nicht mehr zu sehen.
Gegen Ende des Sommers habe ich mich gewundert, warum der dicke Holzpfosten so stark wackelt, an dem im hinteren Teil meines Gärtchens ein Wasserhahn für den Gartenschlauch befestigt ist. Als der Pfosten sich dann auch noch zur Seite neigte, habe ich näher hingesehen. Da entdeckte ich, dass der Pfosten nur noch knapp bis unter das Erdreich vorhanden war. Der ganze Rest fehlte, war einfach abgenagt. Stattdessen befand sich dort eine geräumige, fein ausgepolsterte neue Mäuse-Wohnung, diesmal sogar mit einem schützenden Dach darüber. Meine Maus ist eben ein besonders kluges Tier.
Der angenagte Pfosten wurde von einem Handwerker mit Hilfe einer Metallschiene neu befestigt. Aber die Mäusewohnung konnte dort nicht bleiben. Der Hausmeister hat mir geraten, die Löcher unter dem Pfosten zu verfüllen. Mühsam habe ich einen schweren Eimer mit Split aus dem Baumarkt herangeschafft. Split rieselt wirklich gut und füllt so eine Mäusewohnung perfekt aus. Wenn alles fertig ist, kann man das Ganze auch noch beliebig oft mit Wasser fluten.
Meine kluge Maus hat das alles natürlich erkannt. Rechtzeitig ist sie aus einem Nebeneingang geschlüpft. Ich entdecke sie auf ihrem Beobachtungsposten einige Meter entfernt unter einem Strauch. Hochaufgerichtet sitzt sie auf den Hinterbeinen, sodass ich das helle Fell auf ihrem Bauch deutlich erkennen kann. Es kommt mir vor, als hätte sie ihre kleinen Vorderpfötchen auf ihre Hüften gestützt und mich aus ihren schwarzen Knopfaugen vorwurfsvoll angeblickt.
Da hat die kleine Maus mir leidgetan. Ich habe ihr gesagt, dass sie meinetwegen in meinem Gärtchen wohnen bleiben kann. Aber sie darf nicht auf die Terrasse kommen. Und falls ich sie in meiner Wohnung erwischen sollte, würde ich sie garantiert umbringen.
Seitdem wohnt die kleine Maus in einem neuen Bau zwischen der Hortensie und dem Rhododendron. Manchmal sehe ich sie am Rande des Rasens in der Sonne sitzen oder zwischen den Blumen auf dem Beet herumhuschen. Bis zur Terrasse kommt sie aber nicht. Vermutlich lebt sie als Single, denn noch nie habe ich sie in Gesellschaft gesehen.
Neulich hat es geklingelt und der Hausmeister stand vor meiner Tür. „Ich wollte sie informieren,“ sagte er, „es wird in der nächsten Woche eine große Aktion zur Bekämpfung der Mäuseplage hier auf dem Gelände durchgeführt. Sie haben da ja auch ein Problem. Sind sie einverstanden, dass wir in ihrem Gärtchen Giftköder auslegen?“„Nein danke,“ habe ich gesagt, „bei mir ist alles in Ordnung.“
Ich hoffe jeden Tag, dass mein kleines Mäuschen genau weiß, was ein Giftköder ist.
Interessanter Text!
Danke.