Was mich ärgert
ist, dass niemand Mitleid hat mit mir. Wo ich doch eine wirklich schlimme Kindheit durchleben musste. Diese habe ich wohl nur mit viel Glück überstanden.
In die Schule bin ich jeden Tag allein zu Fuß gegangen. Sie lag drei Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, und ich musste mehrmals täglich einen unbeschrankten Bahnübergang und eine Bundesstraße überqueren. Meine Eltern haben mich nie in die Schule gefahren, obwohl bei uns ein Auto in der Garage stand.
Mir stand kein Spielplatz mit kindgerechter Ausstattung zur Verfügung. Ich musste mich mit unserem Garten begnügen und der angrenzenden, mit Stacheldraht eingezäunten Kuh-Weide.
Schwimmen lernen musste ich ohne städtisches Freibad und ohne Lehrer. Einfach solange im eiskalten Wasser eines aufgestauten Bachs bewegen, bis die Füße auf dem glitschigen Untergrund wegrutschen. Danach gibt es die Wahl zwischen Ertrinken oder Schwimmen, und dann klappt das schon.
Zum Klettern gab es keine Geräte, sondern nur den nahen Waldrand. Wenn ich mich beim Besteigen der Bäume zu dumm angestellt habe, wurde ich nicht von einer TÜV-zertifizierten weichen Gummi-Dämm-Matte aufgefangen, sondern bin vom Ast direkt auf den Boden geknallt.
Bei normalen Verletzungen wurde einfach nur das Blut abgewischt und ein Pflaster draufgeklebt. Meistens heilte das von selbst. Einen Arzt gab es in unserem Dorf auch gar nicht. In wirklich schlimmen Fällen entschied die Gemeindeschwester mit Namen „Diakonisse“, ob die Fahrt zum Krankenhaus in der fernen Kreisstadt erforderlich war.
Eine Laktose-Intoleranz konnte ich mir nicht leisten. Ich durfte froh sein, dass es manchmal frische Kuhmilch direkt vom benachbarten Bauernhof zum Abendessen gab. Obwohl die dicke Sahnehaut, die oben auf der Milchkanne schwamm, immer zum Kotzen eklig war, habe ich alles getrunken. Dadurch bin ich gut wachsen und habe stabile Knochen bekommen. Mütter konnten damals noch kochen, manche gut andere nicht so doll. Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam: Wehe, wenn ein Rest auf dem Teller zurückblieb. Dann wäre das Wetter schlecht geworden. Leider ist mir „Vegane Kost“ oder eine „Low-Carb-Diät“ nie angeboten worden. So wurden mir von vornherein alle Chancen genommen worden, aus mir einen gertenschlanken, schönen Körper zu formen.
Bei der Auswahl meiner Kleidung hatte ich nicht die Wahl, ob ich mich im „family-concept-store“ einkleiden oder doch eher für „trendorientierte ökölogische Kindermode“ festlegen sollte. Ich hatte überhaupt kein Mitspracherecht. Wenn ich wieder ein Stück gewachsen war, wurde einfach der Saum am Rock herausgelassen. Im kalten Winter gab es kratzige Wollstrümpfe am Strumpfhalter. Oder eine Trainingshose wurde unter dem Rock getragen. Bei Schuhen, die vorne zu eng geworden waren, wurde die Kappe abgeschnitten. Dann hatte ich Sandalen für den nächsten Sommer.
Ich hatte kein Handy und kein Internet. Ein großes, schwarzes Telefon mit einer umständlichen Wählscheibe stand irgendwann bei uns im Flur. Streng bewacht von meinen Eltern, denn Telefonanrufe waren teuer. Das Telefon konnte man nicht herumtragen, es hing mit einer kurzen Strippe fest verbunden an dem Anschluss in der Wand. Alle konnten mitgehören, was gesagt wurde. Wer weiß, was aus meinem Leben geworden wäre, wenn ich in den Zeiten meiner ersten Liebe ungestört hätte telefonieren oder chatten können!
Heute ist dies alles kaum noch vorstellbar. Es grenzt an ein Wunder, dass ich meine Kindheit halbwegs unbeschadet überstanden habe.